Traumfänger im Herbstwald

Epilog – Mila

Hanna 

»Hey, gib mir sofort meinen Schuh zurück!«, sage ich lachend, lasse meinen Stift fallen und renne Luna hinterher. Leider barfuß — aber egal — das Gras unter meinen Füßen fühlt sich wunderbar an. Luna läuft immer schneller, schlägt schließlich einen Haken und flitzt dann in einem Affenzahn direkt auf mich zu. Meinen Flipflop hält sie zwischen ihren Lefzen und ihre Augen leuchten schelmisch. Sie liebt es, Schabernack mit mir zu treiben, und im Grunde bin ich ihr nicht böse. Auch wenn ich mir wünschen würde, sie wäre nicht so stur wie ein Esel und würde besser auf mich hören.

»Luna, aus!«, sage ich nun in strengem Ton, denn ich komme mir langsam dämlich vor, wie ich so hinter ihr herrenne. Mal ehrlich, sie ist sowieso schneller als ich, ich würde sie nie einholen können. 

Mein kleiner Hund macht tatsächlich Platz, behält aber den Schuh im Maul. 

»Sehr gut«, lobe ich und lächle sie an. Dann laufe ich auf sie zu, strecke meine Hand aus, um nach dem Diebesgut zu greifen und – schwupp – in dem Moment springt Luna auf und rennt wieder schwanzwedelnd Richtung Weinberg. 

»Grr«, grolle ich und sause ihr erneut lachend hinterher. »Du willst also spielen?«, rufe ich. »Nun gut, das kannst du haben.«

Luna bleibt immer wieder stehen, doch kurz bevor ich sie erreiche, springt sie zur Seite und rennt von mir weg. Immer schneller wirble ich über die Wiese und es macht mir unglaublich viel Spaß. Meine Lunge pumpt, mein Herz klopft, meine Haare fliegen um mich herum. Ich fühle mich jung und frei in diesem Moment. 

Als mir bereits der Schweiß über den Rücken rinnt und ich Seitenstechen bekomme, lasse ich mich ins Gras fallen. Ich sinke nach hinten und starre in den kornblumenblauen Himmel. Einzelne Wolken ziehen vorbei, eine von ihnen erinnert mich an eine riesige Schildkröte. Ich strecke meine Arme seitlich aus und lasse die Knie zueinander fallen. Die Sonne wärmt meine Haut, die gleichzeitig vom leichten Wind gekühlt wird. 

»Lunchen, ich brauche eine Pause. Ich kann nicht mehr«, rufe ich und sofort kommt Luna angetrabt. Auch sie legt sich ins Gras, nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Ihr Zunge hängt dabei fast bis zum Boden, so sehr hechelt sie.

»Das hat Spaß gemacht«, flüstere ich immer noch außer Atem, und streichele ihr über den Kopf. Ihr Fell fühlt sich so weich an, ich könnte den ganzen Tag nichts anderes tun, als sie zu streicheln. 

»Aber ich muss noch die Uni-Formulare ausfüllen«, sage ich seufzend und setze mich in den Schneidersitz. »Und ich sollte mich damit wirklich beeilen, denn William wird bald nach Hause kommen.«

Luna sieht mich an, als ob sie mich verstanden hätte — und ich glaube fest, das tut sie wirklich — schiebt sie mit ihrer feuchten Nase meinen Flipflop zu mir rüber.

»Das ist lieb gemeint«, sage ich. »Aber ich mag diesen angeschlabberten, vor Spucke triefenden Schuh jetzt nicht anziehen.« Ich greife ihn mit spitzen Fingern und stehe dann auf. Dabei lasse ich meinen Blick schweifen. Und wieder einmal kann ich mein Glück nicht fassen. Dieser Ort, die bildhübsche Insel Île d’Orléans, auf der William und ich seit einem Monat wohnen, ist einfach nur traumhaft schön: auf der einen Seite das Meer, auf der anderen Seite Weinberge, Wiesen und Lavendelfelder. 

Das Allerbeste ist allerdings, dass wir so ländlich wohnen und ich trotzdem in einer guten halben Stunde mitten im Trubel von Québec sein kann, der Stadt, in der ich ab Montag Medizin studieren werde. 

Ich freue mich so unendlich darauf. Das Studentenleben werde ich richtig genießen! Mit allem was dazugehört: Partys, Freunden und ja, auch stundenlangem Lernen. Das Jahr, das ich hinter mir habe war hart. Zum Glück war William immer an meiner Seite. Dad fehlt mir immer noch jeden Tag ganz schrecklich! Ich komme nur schwer darüber hinweg, dass ich nicht mehr Zeit bekommen habe, meinen Vater kennenzulernen, ohne dass der Alkohol durch seine Blutbahnen gerauscht ist und seinen Kopf vernebelt hat …

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Nach Dads Tod lag ich zwei Wochen im Bett. Ich habe mein Zimmer nur verlassen, um kurz ins Bad zu gehen. 

In mir tat alles so schrecklich weh, so sehr, dass ich wirklich eine Zeitlang dachte, der Schmerz würde mich zerreißen. Ich konnte es einfach nicht glauben — konnte nicht akzeptieren — dass Dad nun nicht mehr da war. 

Er war so verändert, seit ich aus Brasilien zurückgekommen bin: Er war liebevoll, emphatisch und so präsent. Mit dieser Seiten von Dad hätte ich gerne noch mehr Zeit verbracht. 

Nach den zwei Wochen der unendlichen Trauer, habe ich eine Scheiß-Wut auf diesen miesen Krebs bekommen, der sich hinterhältig in Dads Körper geschlichen hat, und mir und ihm die Chance genommen hat, wieder so richtig zueinander zu finden. 

Die Wut war so mächtig. Am liebsten hätte ich laut geschrien, alles kurz und klein geschlagen, nur um dieses flammende Gefühl loszuwerden. 

Zum Glück wich William nicht eine Sekunde von meiner Seite, denn ich bin sicher: Ohne ihn hätte ich das alles nicht geschafft. Ich wäre geplatzt vor Schmerz, Wut und Verzweiflung und hätte den Boden unter den Füßen verloren. 

Während ich weinend auf dem Bett lag und mein Körper von Heulkrämpfen geschüttelt wurde, war William da und strich mir unermüdlich über den Rücken. Seine warme Hand auf meinem Körper hat mich immer wieder ins Hier und Jetzt zurückgeholt. 

In der anschließenden Phase der Wut hat William beruhigend auf mich eingeredet doch er hat schnell gemerkt, dass ich meine Emotionen wirklich rauslassen, und nicht nur darüber sprechen. muss. 

»Moment, ich habe da eine Idee«, hat er gesagt, als meine Wut kurz vor dem Überkochen war. Er ist aufgestanden, zu meinem kleinen Sofa gegangen und hat sich ein dickes Kissen geschnappt. Dann ist er zurückgekommen, hat sich auf die Bettkante gesetzt, mir mit beiden Händen und durchgestreckten Armen das Kissen entgegengehalten und mich aufgefordert: »Schlag zu! Lass die Wut raus.«

Mit gerunzelter Stirn habe ich dieses Kissen angeschaut. Doch dann, bevor ich es mir anders überlegen konnte, habe ich die meine Faust geballt und zugeschlagen. Das fühlte sich gut an, sodass ich immer und immer wieder gegen dieses Kissen gehauen habe — zum Schluß sogar mit beiden Fäusten. 

Dann, ganz langsam, habe ich gespürt, wie der Druck in meiner Brust abnimmt und mein Gehirn sich wieder einschaltet. Erst in diesem Moment habe ich realisiert, was ich da tue: Ich boxe auf mein beigefarbenes Kissen mit den hellroten Rosen ein. Das kam mir in diesem Moment so surreal und verrückt vor, dass sich, obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte, meine Mundwinkel nach oben gezogen habe. Sie haben sich einfach selbständig gemacht, sich immer breiter auseinander gezogen … Ja, ich lächelte.

Nachdem meine Wut verraucht war und meine Fäuste wieder entkrampften, hat William das Kissen ein kleines Stück sinken lassen, über dessen Rand gelugt und mich mit hochgezogener Augenbraue angesehen. Der Ausdruck in seinen Augen war so witzig, dass ich angefangen habe zu lachen, sodass sich meine Anspannung immer mehr lösen konnte. William hat das Kissen aufs Bett geworfen und mich angegrinst.

Ich konnte eine ganze Weile nicht mehr aufhören, kringelte und kugelte mich … Doch dann wurde es wieder enger. Tief drin in meiner Brust … Das Lachen wurde leiser … und mündete in erneutem Schluchzen … Und wieder waren da Williams Arme, seine Hände auf. Meinem Körper. Er hat mich gehalten und ich konnte mich meinen Tränen völlig hingeben.  

Über meine Gefühle hatte ich in dieser Zeit jegliche Kontrolle verloren. Ich war wie ein einzelnes Wäschestück im Schleudergang der Waschmaschine: In mir wirbelte alles wild umher, ziel- und orientierungslos.

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Die Bilder von Dads Beerdigung wollten auch nicht aus meinem Kopf verschwinden, sie verfolgten mich am Tag, und ließen mich in der Nacht nicht schlafen. Und auch wenn die Beerdigung unendlich traurig war, so hatte sie auch was etwas Friedliches. Etwas, das man mit Worten einfach nicht beschreiben kann.

Adam und ich hatten uns schnell darauf geeinigt, Dad an seinem Lieblingsort zu beerdigen: Wir wollten seine Asche auf dem Meer verstreuen. Dad hat das Meer und seinen Beruf als Hummerfischer geliebt. Außerdem graute es meinem Bruder und mir vor einer Beerdigung auf dem örtlichen Friedhof. Die mitleidigen Gesichter unserer Mitbürger und deren Beileidsbekundungen am Grab hätte ich nicht ertragen können. Ich wollte ganz allein sein mit meiner Trauer …

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Mister Greene, der Kapitän des Schiffes, auf dem Dad gearbeitet hatte, hatte sofort eingewilligt, als wir ihn gefragt haben, ob wir Dads Asche von seinem Boot aus verstreuen durften. Somit waren nur Dads Kollegen, Adam, William und ich bei der Beisetzung anwesend. Der Wind wehte mir um die Nase, als ich an der Reling stand und auf das bewegte Meer hinabblickte. 

Das Meer ist so in Bewegung, aber unter der Oberfläche ist es ganz ruhig, habe ich gedacht. Bei mir ist das anders — in mir drin brodelt es, während ich äußerlich ruhig wirke … 

William hat natürlich sofort gespürte, dass ich wieder kurz davor war, in Tränen auszubrechen, und hat nach meiner Hand gegriffen. Sein Daumen strich zart über meinen Handrücken, während ich seine Finger mit meinen umklammerte.

Als wir an der Stelle, an der Dad seine letzte Ruhe finden würde, angekommen waren, hat Kapitän Greene die Fahne auf Halbmast gesetzt. Er hat sein Logbuch in die Hand genommen und dort die Koordinaten von Daddys letzter Ruhestätte eingetragen.

Ich hatte das Gefühl, als würde ich neben mir stehen, was ich wahrscheinlich auch getan habe. Mir war es vorgekommen, als wäre ich gar nicht mit meinem Körper verbunden, sondern würde als stiller Beobachter über der ganzen Szenerie schweben. Nur Williams Hand, die meine hielt, verband mich mit dem Hier und Jetzt und sorgte dafür, dass ich nicht völlig durchdrehte.

Dann war der Zeitpunkt gekommen, um endgültig Abschied zu nehmen. 

Einer von Dads Kollegen, Harold, ein großer, drahtiger Typ, hat die Schiffsglocke geläutet. Nachdem deren Hall vom Wind auf den Ozean hinausgetragen, und sie endgültig verstummt war, war es an der Zeit, Dads Asche dem Meer zu übergeben. 

Adams und mein Blick trafen sich. Wir sprachen kein Wort, doch verstanden uns trotzdem. Mein Bruder, der knapp ein Meter neunzig groß war, wirkte auf einmal ganz klein. Er war blass, seine Augenringe dagegen  leuchteten in dunkelgrau. 

»Gehts?«, fragte William, der sah, wie sehr Adam zitterte. »Ich kann dir beim Öffnen helfen.«

»Danke. Geht schon«, murmelte Adam und schraubte dabei die Urne auf. 

Wir drei standen an der Reling, ich in der Mitte, die beiden wichtigsten Männer meines Lebens neben mir. An meiner linken Hand hielt ich Adam, an meiner rechten William. Adam drückte kurz meine Hand, dann drehte er die Urne auf den Kopf und Dads Asche rieselte heraus. Ein Windstoß erfasste sie, einzelne winzige Asche-Partikel wurden von der Sonne angestrahlt, leuchteten, und wurden dann vom Wind hinaus aufs Meer gewirbelt. 

Dad, jetzt beginnt eine neue Reise für dich. In Gedanken bin ich immer bei dir, dachte ich und blickte der Asche hinterher, wie sie vom Wind in alle Himmelsrichtungen davongetragen wurde. 

Gleichzeitig ließen Adam und William meine Hände los, und legten jeweils einen Arm um mich. Wir standen nun ganz eng beieinander — wir drei waren miteinander verbunden. 

Das sind wir noch heute, und das werden wir — und ich bete jeden Tag dafür — für immer bleiben.

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»Ich bin wieder zurück, Prinzessin«, höre ich Williams Stimme und sie verscheucht sofort meine traurigen Gedanken. Das Rauschen des Meeres, das Surren der Schiffsleinen, die ich soeben in meinem Tagtraum der Beerdigung gehört habe, wird durch Vogelzwitschern des Hier und Jetzt abgelöst. Ich sitze mit einem Stift bewaffnet in unserem Garten, und will eigentlich den Stapel Formulare für die Uni ausfüllen. Um mich herum surrt und summt es, und ich glaube so schön wie heute haben die Vögel noch nie gesungen. Okay, genau genommen, denke ich das jeden Tag. Ich kann es einfach nicht glauben, dass die Schöpfung es so gut mit uns Menschen meinte und uns Vogelgezwitscher geschenkt hat. Für mich ist es die Melodie, die mein Herz zum Singen bringt.

»Und? Wie war dein Ausflug?«, frage ich meinen Freund, der sich neben mich auf die Bank setzt. Ich spüre direkt, dass es nicht so erfolgreich verlaufen ist, denn William lässt die Schultern sinken. Instinktiv ergreife ich seine Hand.

»Geht so. Ich habe ein neues Waldgebiet erkundet. Ein wunderschönes und unberührtes Stück Natur. Dahin verirrt sich normalerweise keine Menschenseele. Leider habe ich dort aber auch keine Hütte entdeckt, in die Ares Louise hätte bringen können.«

»Du wirst sie finden. Wir werden das.«

»Ich weiß. Trotzdem würde ich sie lieber heute als morgen finden. Es macht mich verrückt, dass ich nicht weiß, wo er sie hingebracht hat.«

Das glaube ich ihm aufs Wort, denn mir geht es nicht anders. Tief in meinem Inneren spüre ich zum Glück, dass Louise noch am Leben ist, und sie dieses eine Jahr gut überstanden hat. Wenn ich an sie denke, werde ich unglaublich traurig. Die Einsamkeit setzt ihr bestimmt zu. Ich erinnere mich immer wieder an das Bild, wie sie vor dem Ofen in ihrem Sessel saß, mit einem Buch auf ihrem Schoß und völlig versunken in die Geschichte. Heute sitzt sie irgendwo, wahrscheinlich im Wald und das ohne Buch und vor allem ohne Ofen. Der letzte Winter war hart und lang. Hier in Kanada ist das kein Zuckerschlecken. Wie sehr muss Louise gefroren haben … Sie hat bestimmt einen Weg gefunden sich ein Feuer zu machen, spreche ich mir immer wieder selbst Mut zu, sonst würde ich in Mitleid versinken. 

William sucht jeden Tag nach ihr. Aber erst nachdem Yara und Luna über den großen Teich zu uns geflogen waren und ich tagsüber abgelenkt war. Außerdem hat es ein bisschen gedauert, bis ich emotional so stabil war, dass ich für ein paar Stunden allein bleiben konnte, ohne in einem Meer aus Tränen zu versinken. 

Mit seiner Such hat William an der Grenze zu Kanada angefangen. Und als er dort keinen Ort fand, an den Ares Louise gebracht haben könnte, erweiterte er seinen Radius. Ich glaube auch für ihn war es schwer zu dieser Zeit. Denn er musste den Grat finden, zwischen ich möchte für meine Freundin da sein und ich muss Louise finden. Aus meiner Sicht hat er das wunderbar hinbekommen und ich war ja auch nicht allein. Yara, Luna und Adam waren da und wir wurden alle in kurzer Zeit zu einem großartigen Team.

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Paolo hatte es wirklich geschafft Yara einen Pass zu besorgen. Sie hieß jetzt offiziell Yara Santos Cardoso und war zwanzig Jahre alt. 

Ich werde nie vergessen wie nervös und zappelig ich in der Ankunftshalle des Flughafens gestanden und im Minutentakt auf die Anzeigentafel geblickt habe. Nachdem Yaras Flugzeug gelandet war, wurde ich noch nervöser. Ohne sie und ihren Bruder hätte ich es nie geschafft, William aus den Fängen der Eingeborenen zu befreien und ihn, so verletzt wie er war, aus dem Dschungel zurück in die Zivilisation zu bringen.

Jetzt stand ich in der Ankunftshalle und in wenigen Minuten würde ich Yara dabei helfen können, in ein neues Leben zu starten. Ein Leben ohne Druck, Angst und Schlägen.

Als die große Tür aufging und ich Yaras dunklen Lockenkopf erblickte, hüpfte mein Herz vor Freude. Ich ließ Williams Hand los und lief meiner Freundin entgegen. Wir fielen uns um den Hals und Tränen der Freude durchtränken unsere Oberteile. Minutenlang umarmten wir uns und konnten vor Rührung eine Zeitlang nicht sprechen. Erst nachdem William sich räusperte, lösten wir uns voneinander. 

»Es ist so toll, euch so zu sehen, Mädels. Doch ich glaube, wir sollten Luna ganz schnell abholen. Die kleine Maus ist sicher froh, wenn sie aus ihrer Transportbox darf.«

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William wählte extra den schöneren Weg, den an der Küste entlang, als Heimweg. Ich wollte auf der Rückbank sitzen, um Luna streicheln und um in Yaras liebes Gesicht blicken zu können. Ihr Mund stand offen, als wir durch die wundervolle Natur Maines fuhren. Die Schönheit der Landschaft, die sich vor ihr auftat, hat sie fast erschlagen. So sieht wohl ein Kulturschock aus, dachte ich. 

»Alles ist so sauber und ordentlich«, murmelte sie immer wieder.

»Und es gibt keine wilden Tiere, vor denen man sich hüten muss«, sagte ich.

»Ich werde sicher eine ganze Weile brauchen, bis ich mich hier eingelebt habe.«

»Ach was, du wirst dich schnell an das Leben hier gewöhnen«, sagte William und blickte sie durch den Rückspiegel an.

»Und warte ab, bis du Muffins, Donuts und Eiscreme probiert hast. Dann wirst du dir nicht vorstellen können, wie du jemals ohne leben konntest«, sagte ich.

»Was sind Muffins?«, fragte Yara und sah mich mit ihren großen dunklen Augen an.

»Was verdammt Leckeres!«

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Und dann passierte etwas, von dem ich nie gewagt hätte es zu träumen …

Nachdem wir vom Flughafen nach Hause kamen, standen wir vor der Haustür und ich kramte in meiner Handtasche nach dem Haustürschlüssel. Mein Bruder, der bereits Williams röhrendes Auto gehört hatte, war schneller als ich und öffnete uns die Haustür. 

Und ja, seitdem bin ich mir tausendprozentig sicher, dass es die Liebe auf den ersten Blick gibt. Denn als Adams Blick Yaras traf, konnte ich Amors Pfeil an mir vorbeifliegen spüren. Adams Unterkiefer klappte nach unten und Yaras wunderschöne große Augen wurden noch ein Stückchen größer.

Und ich schwöre, dass ich unter Yaras dunkler Haut erkennen konnte, dass sie in diesem Moment ein bisschen rot wurde.

»Los Leute, rein mit uns, oder wollen wir uns hier die Beine in den Bauch stehen?«, fragte William, der Yaras schweren Koffer in der einen und die zappelnde Luna in der anderen Hand hielt. Anscheinend hatte er nichts von der Magie, die eben um uns herum stattfand, mitbekommen.

»Äh, klar, kommt erstmal rein«, stammelte Adam und machte uns den Weg frei. 

Ich konnte ihm wirklich ansehen, dass es um ihn geschehen war, und ich schöpfte in diesem Moment ein wenig Hoffnung, dass doch vor ihm doch eine heile Zukunft liegt. 

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Die Wochen flogen nur so dahin. Die Trauer ließ mich nur ungern aus ihren Fängen, alles erinnerte mich an Dad. Noch heute kann ich nicht am Wohnzimmer vorbeilaufen, ohne das Bild im Kopf zu haben, wie er dort mit seinen Bierflaschen im Sessel sitzt. Immer lief entweder eine Talkshow oder Sport im Fernseher. 

Ich versuche diese Bilder als liebevolle Erinnerung zu sehen, und erlaube ihnen nicht länger, mir den Boden unter den Füßen wegzureißen. Das klappt auch immer besser. Aber an manchen Tagen aber leider nicht.

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William, Luna und ich zogen nach ein paar Wochen zurück in unsere Waldhütte. Stundenlang streifte ich mit unserer kleinen Maus durch den Wald und meine Seele heilte immer mehr. Die Natur schenkte mir Kraft, Ruhe und Frieden. Hier konnte ich ich sein: Hanna, das Mädchen, das immer an ihre Träume glaubt und nie vergisst, dass selbst hinter der dunkelsten Wolke die Sonne scheint.

Yara und Adam gestanden sich ihre Liebe füreinander schnell ein und ich bin mir sicher, dass da das Schicksal seine Finger im Spiel hatte. Die beiden waren dazu bestimmt, zueinander zu finden.

Doch sie hatten es am Anfang alles andere als leicht, denn leider warn nicht alle unserer lieben Mitbürger dieser Meinung. Als ich noch dachte, dass über William und mich viel getratscht wird, war ich wohl ganz schön naiv. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass mein Bruder und Yara für noch mehr Getuschel sorgen würden.

 An dem Tag, als die beiden Hand in Hand zu Matthew ins Diner spaziert sind, und dann dort am Tisch saßen und sich verliebte Blicke zuwarfen, explodierten die Einwohner förmlich vor Neugier. Die absurdesten Gerüchte wurden in die Welt gesetzt und die Thesen, wie Adam an so eine exotische Schönheit gekommen ist, wurden immer wilder und ausgefallener. 

Sie werden die Wahrheit nie erfahren, dachte ich, als Matthew mich über den neuesten Tratsch informierte.

William lud mich oft zu Matthew ins Diner ein, denn ich war wirklich dünn geworden und musste dringend ein paar Pfund zunehmen. Besser noch ein paar Kilo. Zudem tat es ganz gut, sich unter Leute zu mischen und wieder am normalen Leben teilzunehmen.

»Hast du eigentlich schon mitbekommen, dass David weggezogen ist?«, fragte Matthew mich an einem Freitagabend, nachdem er mir meinen Veggie-Burger mit Ziegenkäse brachte.

»David ist weggezogen?«, echote ich und konnte Matthews Worte kaum glauben. Davids Leben war doch so schön vorgeplant, alle Stationen seines Lebens bereits ausgearbeitet gewesen: den elterlichen Betrieb übernehmen, Haus bauen, Heirat, Kinder, Rente, Tod … Von hier wegzuziehen war in diesem Plan nie vorgesehen gewesen.

»Ja, letzte Woche hat er seinen Koffer gepackt und ist nach Schweden ausgewandert.«

Mir kam das alles seltsam vor. »Schweden? Wieso denn Schweden? Das ist ja ultraweit weg.«

»Ich glaube, genau aus dem Grund ist die Wahl auf dieses kleine europäische Land gefallen. Hier konnte er sich ja nicht mehr in der Öffentlichkeit blicken lassen. Dass er William so reingelegt hat, ist auch weit über die Stadtgrenze hinaus bekannt geworden.«

»Ich finde es mehr als gut, dass er weit weg ist«, sagte William und nickte dabei.

»Mir ist es ziemlich egal wohin er ist, von mir aus hätte er auch nach Angola ziehen können. Mir tun nur seine Eltern schrecklich leid, denn die haben sich die Zukunft ihres Sohnes sicher anders gewünscht«, sage ich. Und das meine ich auch genau so. Davids Eltern waren immer sehr nett zu mir gewesen. Sie haben mich behandelt, als wäre ich ein Familienmitglied und dafür werde ich ihnen ewig dankbar sein.

»Ich denke, dass David gewusst hat, dass er hier niemals eine Frau finden wird. Und auch beruflich hätte er es schwer gehabt. Niemand macht gerne mit jemandem Geschäfte, der so hinterhältige Dinge getan hat. Dass er so skrupellos sein konnte und einem armen Hund die Kehle durchgeschnitten hat,« sagte Matthew und schüttelte beim Reden den Kopf, »werden die Leute wirklich nie vergessen. Und die lieben Bürger aus Blue Hill schon dreimal nicht.«

»Und keiner weiß, warum er nach Schweden ist?«, fragte William.

»Seine Eltern erzählen, er ist dorthin, weil es dort die größten Sägewerke Europas gibt. Schweden ist wohl Weltmarktführer in der Herstellung von Holzmöbeln. Ich denke, dass Davids Eltern ihre Beziehungen haben spielen lassen und er deshalb dort untergekommen ist. Na ja, ich wünsche ihm, dass er dort glücklich wird«, sagte Matthew und verließ dann unseren Tisch, um zurück zu seinem Herd zu gehen.

Ich saß nachdenklich vor meinem Burger und irgendwie war mir der Appetit vergangen. Auch wenn David sich wie ein Arsch verhalten hat, so tat er mir jetzt doch leid. Ich hoffe sehr für ihn, dass er sein Glück dort findet und sich wenigstens ein paar seiner Träume erfüllen werden.

Mein Burger war wahnsinnig lecker und der Abend wurde doch noch ganz entspannt.

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»Prinzessin, langsam müssen wir mal über deine Zukunft nachdenken«, sagte William an einem kühlen Herbstabend. Wir saßen vor unserer Hütte auf der Holzbank am Lagerfeuer, ich hatte eine dicke Decke um mich geschlungen und genoss den Anblick der Sterne über mir. 

»Über meine Zukunft?«, fragte ich erstaunt. »Ich dachte es gibt nur unsere Zukunft.«

»Die gibt es auch. Aber was ich meine ist deine berufliche Zukunft. Dein Traum war es doch immer, zu studieren. Meiner Meinung nach, solltest du das auch tun.«

Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ja, Studieren in Stanford war immer mein Wunsch gewesen. Hinaus in die große, weite Welt wollte ich, dachte ich und in dem Moment wurde mir klar, dass ich bereits einen Teil der großen, weiten Welt gesehen hatte. 

Heute wusste ich sogar, dass diese Welt mehr zu bieten hat, als das, was wir sehen können. Nie hätte ich geglaubt, dass es Vampire gibt, und niemals hätte ich daran geglaubt, mich in einen verlieben zu können …

»Wenn ich studieren gehe, müssten wir uns trennen. Zumindest räumlich. Du kannst ja nicht jeden Tag  in Kanada nach Louise suchen, während ich im Landesinneren in einem Hörsaal sitze. Sogar wenn ich in Portland studieren würde, wäre es für dich zu weit, täglich nach Kanada zu fahren. Und wer weiß, wie weit nördlich Ares Louise verschleppt hat.«

»Ja, das stimmt. Wenn du in Kalifornien studieren würdest, würde ich Louise niemals finden. Denn ich würde mit dir gehen. Niemals mehr möchte ich ohne dich an meiner Seite einschlafen.«

Ich sah William an. Eine dunkle Haarsträhne fiel ihm über die Augen, die einen melancholischen Ausdruck hatten.

»Und was würde aus Luna werden?«, werfe ich ein. »Sie gehört in den Wald. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich je in der Stadt wohlfühlen könnte.«

»Da hast du recht. Aber hey, Baby, du musst studieren gehen. Stundenlang hast du deine Nase in Bücher gesteckt, hast von nichts anderem gesprochen, als ich dich kennengelernt habe … Du darfst deinen Traum nicht aufgeben.«

»Ach«, sage ich. »Ich würde auch wirklich gerne Medizin studieren. Seit Dads Tod noch viel lieber als vorher. Denn ich will diesem elenden Krebs sowas von in den Hintern treten. Aber im Moment sehe ich da echt keine Lösung.«

»Es muss eine Lösung geben. Es gibt für alles eine Lösung!«, sagte William bestimmt. »Uns wird eine einfallen.«

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Und tatsächlich! Das tat es … 

William war eine Nacht und zwei Tage lang unterwegs gewesen, um ein Stück höher in den Norden Kanadas fahren zu können. Er wollte gerne, dass ich mitkomme, aber ich weiß, dass er ohne mich schneller vorankommen würde. So zog ich für diese Nacht zu Adam und Yara und wir spielten bis in die späten Abendstunden Scrabble. 

Yara lernte immer mehr Wörter dazu und sprach nach kurzer Zeit fließend unsere Sprache. Sie hat so einen lieblichen Akzent, ich könnte ihr stundenlang zuhören. 

Am nächsten Abend, an dem Abend als William wiederkam, stürmte er in unsere Küche, in der Adam, Yara und ich gerade das Abendessen zubereiteten und sagte, ohne ein Wort des Grußes: »Ich hab’s! Ich habe den Ort gefunden, wo du studieren kannst, ich Louise suchen kann und Luna sich wohlfühlen wird.«

Ich stellte die schwere Pfanne, in der ich Gemüse braten wollte, auf den Herd zurück und sah meinem Freund in sein strahlendes Gesicht. »Na, da bin ich aber gespannt!«

Drei Augenpaare waren voller Neugier auf William gerichtet, als er sagte: »Québec! Da kannst du studieren. Ich habe schon recherchiert. Da gibt es die Université Laval, sie hat einen grandiosen Ruf im Bereich Medizin.« William schäumte fast über vor Freude.

»Québec? Da sprechen sie doch französisch«, stellte ich in trockenem Tonfall fest.

»Ja, aber auch englisch. Also perfekt für dich. Die Stadt ist wahnsinnig schön, sie hat französisches Flair: lauter kleine Gassen, französische Restaurants und in der Altstadt ist es richtig gemütlich. Der Sankt Lorenz Strom, der direkt in den Atlantik mündet, fließt dort vorbei, und direkt an der Stadtgrenze beginnt der Wald.«

»Äh …«, sagte ich, kam aber nicht weiter, denn Adam unterbrach mich.

»Ich kenne ein paar Leute, die in Québec waren. Jeder hat die Stadt in den höchsten Tönen gelobt. Die Lage wäre wirklich perfekt, Hanna. Ich schätze die Fahrt von hier bis dorthin dauert fünf Stunden. Ihr könntet Yara und mich immer mal wieder am Wochenende besuchen. Oder wir euch.«

Und das überzeugte mich. In meinem Gehirn legte sich ein Schalter um, und ich bekam richtig Lust mir diese Stadt anzuschauen. Studieren, Waldnähe und Adam ab und an besuchen, klang so verlockend. »Okay, dann fahren wir gleich morgen früh los und schauen uns die Stadt an. Yara, Adam, kann Luna bis übermorgen bei euch bleiben?«

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Schon von weitem sah ich Château Frontenac, das Luxushotel, das auf dem Hügel über der Stadt thront. Ich dachte erst, es handle sich um einen Scherz, als William sagte, dass wir dort übernachten würden. Für mich sah es aus wie das Märchenschloss von Aschenputtel und nicht nach einem Ort, an dem Touristen übernachten konnten. 

Unser Zimmer war riesig, leider traf die Einrichtung nicht ganz meinen Geschmack. Die rustikalen Eichenmöbel waren nichts für meine Altersklasse. Aber in den weichen, wollenen Teppich konnte ich meine Zehen nicht tief genug graben. Und die Aussicht aus unserem Zimmer war schlichtweg fantastisch. 

»Und? Wie ist der erste Eindruck der Stadt?«, fragte William und stellte sich neben mich ans Fenster.

»Es ist wirklich wunderschön hier«, sagte ich und legte meinen Kopf schräg, sodass ich an seiner Schulter lehnte.

»Mir gefällt es auch. Und warte ab, bis du die romantische Altstadt siehst. Ich sehe uns jetzt schon abends Hand in Hand übers Kopfsteinpflaster schlendern, dann setzen wir uns in ein Restaurant und du erzählst mir von deinem aufregenden Tag an der Uni.«

»Klingt echt gut.«

»Bist du eigentlich schon jemals Kajak gefahren?«

»Kajak? Nein, noch nie.«

»Ich habe gelesen, das machen hier alle. Der Sankt Lorenz Strom ist wohl super dafür geeignet.«

»Kajakfahren stand jetzt nicht auf meiner Bucket-Liste, aber hey — man sollte doch für jedes Abenteuer offen sein, oder?«

»Auf alle Fälle. Das Leben ist einfach zu kurz, um Dinge, die Spaß machen könnten, nicht auszuprobieren.«

So gerne wollte ich William daran erinnern, dass sein Leben so viel länger dauern wird, als meins … Dennoch wusste ich, dass, wenn ich das jetzt aussprechen würde, sein Herz wieder in einem See aus Melancholie versinken würde. Und auf keinen Fall wollte ich diese besondere Stimmung, die hier über uns in der Luft schwebte, während wir am Fenster standen und auf die Stadt blickten, in der wir in naher Zukunft wohnen würden, kaputtmachen.

»Apropos Spaß«, sagte ich stattdessen, drehte mich zu ihm und schlang meine Arme um seinen Hals. »Wir wäre es, wenn du deiner Freundin einen Kuss gibst? Immerhin sind wir hier im Märchenhotel.«

»Prinzessin, nichts lieber als das …«

Sein Kuss war hauchzart und ich spürte die Liebe, die er für mich empfand, als sich unsere Lippen trafen. Wir küssten uns zart und sacht, so als würden sich unsere Lippen zum ersten Mal berühren. Durch meine lange Phase der Trauer, war unsere körperliche Liebe viel zu kurz gekommen. Jetzt hatte ich das dringende Bedürfnis, das ganz schnell zu ändern.

William hob mich hoch und trug mich zum Bett. Zart berührte sein Mund meinen Bauch und bedeckte jeden Millimeter meiner Haut mit hunderten kleinen Küssen. Dann wanderte er langsam nach unten und kurz bevor seine Zunge meine Mitte berührte, hob William nochmals den Kopf und sah mir in die Augen. »Du bist wirklich meine Prinzessin und ich werde dich immer auf Händen tragen.« 

Dann senkte er seinen Kopf und tat das, von dem ich schon fast vergessen hatte, wie gut es sich anfühlt. 

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Wir erkundeten zwei Tage lang die Stadt, schlenderten durch die schmalen Gassen, besuchten Restaurants, machten eine kurze Schifffahrt auf dem Sankt Lorenz Strom und besichtigten die Universität. 

In die Uni habe ich mich bei der Besichtigung auf den ersten Blick verliebt. Es war so grün hier, überall saßen Studenten im ausladenden Parkgelände. Manche von ihnen waren so in ihre Bücher vertieft, das man meinen konnte, sie wären von ihrer Umwelt abgekapselt. Andere unterhielten sich und sprühten vor Lebensfreude. Ein bisschen Respekt hatte ich vor der französischen Sprache. Aber ich war mir ganz sicher, dass ich das hinbekommen werde, denn meine Französischnoten waren immer sehr gut. Wenn ich ein bisschen mehr Übung habe und gezwungen bin, jeden Tag französisch zu sprechen, wird mir das in Fleisch und Blut übergehen. So wie Yara das auch hinbekommt. Und hey — ich habe immer davon geträumt, was von der Welt zu sehen und aus dem kleinen Blue Hill herauszukommen. Et voilà — Québec bietet mir das alles und es ist nur etwas mehr als fünf Stunden von Adam entfernt, sprach ich mir Mut zu.

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Wieder zuhause angekommen habe ich mich sofort an der Universität beworben. Adam, Yara und William haben jeden Tag mit mir gebangt. Nach einer Weile kam ich mir schon ein bisschen blöd vor, wie ich täglich um kurz vor zehn am Fenster saß und auf den Briefträger gewartet habe. So sehr habe ich gehofft, dass er mir die Zusage von der Uni bringt. Nachdem vier Wochen verstrichen waren, und ich noch immer keine Post erhalten hatte, sank meine Laune in den Keller. Und obwohl ich Zickengetue normalerweise nicht ausstehen kann, habe ich mich in den kommenden zwei Wochen selbst in eine Zicke verwandelt.  Die schlimmste Art, die man sich nur vorstellen kann. Ich konnte mich selbst kaum ertragen. William hatte zwar versucht, mich aufzumuntern, aber es gelang ihm nicht wirklich. Geduld ist wirklich keine meiner Stärken. 

Dann endlich kam er — ein Brief, auf dessen Umschlag das Wappen der Universität prangte. 

»Da kann nie und nimmer einen Zusage drin sein«, sagte ich, während ich ihn bedächtig in die Küche trug. Adam, Yara und William setzten sich zu mir an den Küchentisch: Luna, die spürte, dass ich durch den Wind war, legte ihren Kopf auf meinen Schoß. 

»Ich traue mich nicht ihn aufzumachen«, sagte ich und mein Hals fühlte sich auf einmal an wie Schmirgelpapier.

»Los, mach ihn schon auf. Mein Gefühl sagt, da ist die Zusage drin«, sagte Yara und sah mich aufmunternd an. 

»Mein Gefühl sagt das gleiche, Schwesterherz.«

»Das ist eine Zusage, Prinzessin. Da bin ich mir ganz sicher. Was anderes als Herzlich willkommen an unserer Universität, darf da einfach nicht drinstehen.«

»Und wenn doch?«, fragte ich vorsichtig mit kratziger Stimme.

»Dann fahre ich dahin und prügle den Direktor windelweich.«

Bei der Vorstellung musste ich grinsen. Auch wenn ich wusste, dass William das im Spaß gesagt hatte, so wusste ich doch auch, dass er durchaus seine Drohung wahrmachen könnte.

Ich fasste mir ein Herz und öffnete mit zittrigen Fingern und einer Menge Herzklopfen den Umschlag. Und ja! Es stand genau das drin, was Yaras, Adam und William Gefühl ihnen zugeflüstert hatte. Ich durfte wirklich Medizin studieren! Ich war mehr als glücklich und hatte — das erste Mal nach Dads Tod — so richtig Hoffnung und Lust auf meine neue Zukunft. 

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Das Haus, in dem wir jetzt wohnen, hatten wir schnell gefunden. William wollte nicht so gerne mitten in der Stadt wohnen. Und auch wenn ich mir das für eine Zeitlang vorstellen konnte, so wusste ich, dass mir die Natur schrecklich fehlen würde. 

Als ich dieses kleine Haus, das ganz aus Stein gebaut war und an dessen Front wunderschöne rote Kletterrosen wachsen, im Internet entdeckt habe, hüpfte mein Herz vor Freude. William war sofort einverstanden und wir haben einen Besichtigungstermin vereinbart. 

Das Foto, das auf der Immobilienwebseite gezeigt wurde, war nicht retuschiert. Das Haus und das Grundstück waren wirklich wildromantisch, als William und ich es ein paar Tage später besichtigten. Es steht auf der Île d’Orléans, einer schönen Insel, nur wenige Kilometer von Québec entfernt. 

»Abends können wir uns, nachdem wir mit Luna in den Weinbergen einen Abendspaziergang gemacht haben, auf diese Bank setzen und der Sonne dabei zusehen, wie sie im Meer versinkt«, sagte William, nachdem wir in den Garten getreten waren und er die Holzbank entdeckt hatte. 

»Das klingt nach einem Plan.« Ich lächelte William an und war einfach nur glücklich.

»Wir nehmen das Haus«, sagte William und drehte sich zur Immobilienmaklerin, die hinter uns in den Garten getreten war, um.

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Jetzt sitze ich mit William genau auf dieser Bank und wünsche mir nichts mehr, als dass William bald Louise findet.

»Wir werden sie finden. Das weiß ich ganz genau«, sage ich noch einmal, um ihn aufzumuntern. »Und zwar ganz bald.«

»Ich hoffe es so sehr …«

»Mein Gefühl sagt mir, dass du ganz kurz davor bist.«

»Dann möchte ich nichts lieber, als deinem Gefühl zu glauben …«

Ich lege meinen Arm um ihn und ziehe in zu mir heran. Seine rauchgrauen Augen sehen mich an und ich spüre ein zartes Kribbeln in meinem Bauch. Ich liebe William so sehr. Und manchmal kann ich es immer noch nicht glauben, dass er mich auch liebt.

»Musst du diese Formulare wirklich jetzt ausfüllen?«, fragt er und deutet auf die Papiere, die vor mir auf dem Tisch liegen. Dabei wird sein Blick dunkler und er lächelt mich spitzbübisch an. Ich freue mich, dass seine Zweifel, Louise jemals zu finden, dem Gefühl von ich werde sie finden und nie aufgeben gewichen ist.

»Nein. Eigentlich kann ich sie auch später ausfüllen. Im Zweifel sogar morgen«, sage ich und lege den Stift endgültig beiseite.

»Na, dann«, sagt er, steht auf und nimmt meine Hand. »Lass uns reingehen.«

»Was wollen wir denn da?«, frage ich, obwohl ich die Antwort schon weiß.

»Ich will dich erst ein bisschen in der Badewanne verwöhnen. Danach werde ich dich bitten dein Blumenkleid anzuziehen, in dem du so eine gute Figur machst. Ich dachte, ich lade dich zum Essen ein, an deinem vorletzten Abend als Nichtstudentin.«

»Du weißt immer was ich brauche, oder?«

»Dieses Immer weiß ich vielleicht nicht. Aber was ich sicher weiß, dass es bei uns ein Für immer gibt.«

In meinem Bauch startet ein Armee von Schmetterlingen, als ich in sein Gesicht blicke. Eine Strähne hängt ihm in die Stirn, seine Gesichtszüge sind weich, sein Blick ist klar. Sein Mantel weht leicht im Abendwind und ich bin einfach nur glücklich, dass er bei mir ist. 

»Für immer«, sage ich lächelnd, ergreife seine Hand und ziehe in hinter mir her ins Haus.

* * *

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